„Ich bin nicht kreativ!“ Diesen Satz habe ich schon oft gehört – von Kolleg:innen, von Freund:innen, manchmal sogar von mir selbst. Es ist einer dieser Sätze, die wie eine Entschuldigung klingen, in Wahrheit jedoch eine kleine Kapitulation darstellen. Da ich in meinen letzten Podcast-Folgen viel mit kreativen Menschen zu tun hatte, möchte ich dem etwas mehr auf den Grund gehen.
Kreativität bedeutet für mich, den Gedanken freien Lauf zu lassen, Raum zu schaffen und unkonventionelle Ideen zuzulassen. Im Volksmund wird oft behauptet, dass es Künstler:innen vorbehalten sei, kreativ zu sein – egal ob Sänger:innen, Schauspieler:innen oder Maler:innen. Das ist jedoch eine Fehlannahme.
Es ist nicht nur falsch, sondern auch gefährlich zu behaupten, man sei nicht kreativ. Denn das versperrt uns den Zugang zu etwas zutiefst Menschlichem – der Fähigkeit, Neues zu denken, zu kombinieren, zu fühlen und zu gestalten. Kreativität ist kein exklusiver Club für Künstler:innen oder Werbetexter:innen. Kreativität ist ein Muskel. Und wie jeder Muskel kann man ihn benutzen, trainieren oder verkümmern lassen.
🎨 Was bedeutet "kreativ sein"?
Wenn man im Internet nach Kreativität sucht, stößt man auf Definitionen wie diese:
„Kreativität ist die Fähigkeit, etwas Neues oder Originelles zu erschaffen, das auch nützlich oder brauchbar ist.“
Kreativität ist ein zentraler Bestandteil von Innovation, Problemlösung und persönlicher Entfaltung. Im Kern bedeutet sie, neu zu denken – ungewöhnliche oder bisher nicht gedachte Verbindungen herzustellen. Es geht darum, eine Idee in eine konkrete Form zu bringen und etwas zu gestalten: sei es ein Text, ein Bild, eine Erfindung, eine Strategie oder ein Produkt. Kreative Ideen sind dabei nicht nur neu, sondern auch sinnvoll und brauchbar im jeweiligen Kontext.
Der Begriff Kreativität stammt vom lateinischen Wort „creare“, was so viel bedeutet wie „erschaffen“, „hervorbringen“ oder „gebären“. In der Antike war „Schöpfung“ oft den Göttern oder der Natur vorbehalten. Erst in der Renaissance rückte der Mensch selbst als schöpferisches Wesen in den Fokus. Im Deutschen wurde der Begriff „Kreativität“ erst im 20. Jahrhundert populär – zunächst in der Psychologie, später auch in Bildung, Kunst und Wirtschaft.
🧠 Divergentes und konvergentes Denken
Wenn wir kreativ arbeiten, nutzen wir dabei unterschiedliche Denkmodi. Zwei zentrale Formen sind das divergente und das konvergente Denken.
Divergentes Denken beschreibt die Fähigkeit, viele verschiedene, teils ungewöhnliche Ideen oder Lösungen zu einem offenen Problem zu entwickeln. Es fördert Originalität, Flexibilität und das Erkunden neuer Perspektiven – typisch etwa beim Brainstorming. Divergentes Denken ist somit ein Kernmerkmal von Kreativität; es geht um Vielfalt und Flexibilität im Denken.
Konvergentes Denken hingegen fokussiert sich auf das Auswählen, Ordnen und Bewerten von Ideen. Es geht darum, aus vielen Möglichkeiten die beste, sinnvollste oder praktikabelste Lösung zu finden. Konvergentes Denken ist typisch für klassische Intelligenztests und bewegt sich innerhalb klarer Strukturen.
Beide Denkweisen sind essenziell für kreative Prozesse: Zuerst braucht es die Weite und Offenheit des divergenten Denkens, um Ideen zu generieren – dann folgt das fokussierte, strukturierte konvergente Denken, um diese Ideen zu formen und umzusetzen. Kreativität ist also kein Chaos, sondern ein Zusammenspiel von Offenheit und Zielorientierung.
🌊 Kreativität im Flow
Besonders spannend wird es, wenn beides zusammenkommt – und wir dabei in einen Zustand geraten, den viele als Flow beschreiben. Flow ist jener Moment völliger Vertiefung, in dem Zeitgefühl, Ablenkungen und Selbstzweifel verschwinden. Man ist vollkommen in der Tätigkeit versunken und erlebt Kreativität als etwas Müheloses, fast Spielerisches.
Der Flow-Zustand entsteht oft dann, wenn die Herausforderung genau im richtigen Verhältnis zur eigenen Fähigkeit steht – weder überfordernd noch langweilig. In solchen Momenten fließen divergentes und konvergentes Denken beinahe intuitiv ineinander: Neue Ideen entstehen und werden gleichzeitig intuitiv geordnet, bewertet und weiterentwickelt.
📚 BUCHTIPP: Mihaly Csikszentmihalyi ist ein ungarisch-amerikanischer Psychologe, der den Begriff Flow im Jahr 1975 prägte. Sein Bestsellerbuch "FLOW - Das Geheimnis des Glücks" wird 2025 noch einmal neu aufgelegt (ab Juli 2025 verfügbar).
🏡 Kreativität im Alltag
Kreativität ist nicht nur für Künstler:innen. Sie ist überall. Du brauchst sie beim Kochen („Was mache ich mit diesen drei Restzutaten?“), beim Elternsein („Wie beruhige ich mein Kind?“), im Beruf („Wie lösen wir dieses Kundenproblem?“), beim Gärtnern, beim Verhandeln, beim Reisen.
Ein:e gute:r Unternehmer:in muss kreativ sein – nicht, um Gemälde zu malen, sondern um neue Wege zu finden. Kreativität ist Innovation im Kleinen wie im Großen.
Sogar bei der Steuererklärung kann man kreativ sein – im besten, legalen Sinne: Man kann Prozesse verbessern, sich eine neue Struktur überlegen, Abläufe vereinfachen. Es geht nicht um „bunter“ oder „lauter“. Es geht um anders denken. Und je öfter man sich erlaubt, querzudenken, desto selbstverständlicher wird es.
Das Four-C-Modell der Kreativität, entwickelt von James C. Kaufman und Ronald A. Beghetto, beschreibt in ihrem einflussreichen Artikel "Beyond Big and Little: The Four C Model of Creativity" vier verschiedene Ausprägungen kreativen Denkens – von alltäglichem Einfallsreichtum bis zu weltveränderndem Genie. Den Anfang macht das mini-C, das kreative Ausdrucksformen im Rahmen von transformativem Lernen beschreibt – etwa bei kleinen Kindern, die durch kreative Erfahrungen ihre Welt begreifen und sich weiterentwickeln. Es folgt das little-C, das die alltägliche, für jedermann zugängliche Kreativität meint: Das Arrangieren von Fotos auf neue Weise, das Improvisieren eines Gerichts mit Restzutaten oder das clevere Lösen eines Terminproblems im Büro sind typische Beispiele. Das pro-C beschreibt professionelle Kreativität, die auf jahrelanger, oft jahrzehntelanger Erfahrung und kontinuierlicher Weiterentwicklung beruht – etwa bei einem Sternekoch, einem Architekten oder einer Schriftstellerin mit mehreren veröffentlichten Werken. An der Spitze steht das big-C: die geniale, bahnbrechende Kreativität, die ganze Disziplinen prägt und über Generationen hinweg nachhallt. Namen wie Einstein, Beethoven oder Kant stehen exemplarisch für diese Stufe, die nur von wenigen Menschen erreicht wird.
🔍 Finde deine Kreativität
Es wäre falsch zu glauben, dass meine besten Ideen am Schreibtisch entstehen. Im Gegenteil: Als jemand, der fast den ganzen Tag vor dem Monitor arbeitet, finde ich meine kreativen Impulse oft außerhalb dieser Umgebung. Oft reicht schon der Weg zur Toilette, um einen Geistesblitz zu bekommen. Mein täglicher morgendlicher Spaziergang mit meinem Hund ist der beste Nährboden für gute Ideen, oft inspiriert durch Podcasts. Ich habe mir mittlerweile einen einfachen Ablauf auf meinem iPhone zurechtgelegt, der es mir erlaubt, auf Knopfdruck die Idee festzuhalten. Das Programm konvertiert meine Sprachnachricht dann in Text und sendet mir den Gedanken direkt in meine Wissensdatenbank.
Zurück am Arbeitsplatz findet dann das konvergente Denken statt. Ich sortiere, schreibe und vertiefe. Aber der kreative Impuls ist meist schon vorher passiert.
📌 TIPP: Jede Idee und jeder Gedanke sollten sofort festgehalten werden, bevor sie wieder verschwinden. Viele Menschen haben sehr gute Ideen, machen aber den Fehler, sie nicht festzuhalten. Egal wie absurd der Gedanke einem vorkommt, einfach niederschreiben! ✍️
Welche anderen Möglichkeiten gibt es noch, um Kreativität zu fördern? Hier sind ein paar weitere Ideen:
Spazierengehen: Das funktioniert am besten bei mir, und hier bekomme ich die meisten kreativen Ideen serviert.
Journaling: Entweder am Morgen oder am Abend die Gedanken aufschreiben, ohne Zensur, den Kopf leeren und Ideen festhalten.
Nichtstun: Einen ruhigen Moment genießen, sei es im Sommer auf der Terrasse, in die Ferne blicken oder einfach auf der Couch ohne Berieselung den Gedanken freien Lauf lassen.
Spielerisch denken: Was wäre, wenn? Stell dir absurde Fragen. Leider ist uns Erwachsenen die Neugierde verloren gegangen. Wir stellen uns viel zu wenig Fragen. Nehmen wir uns ein Beispiel an unseren Kindern, die die absurdesten Fragen stellen. Wir sollten uns viel mehr Fragen stellen.
✅ Fazit
Ich bin überzeugt: Jeder Mensch ist kreativ. Manche leben ihre Kreativität laut aus, andere leise. Manche mit Farben, manche mit Code, mit Worten, mit Plänen, mit Gedanken. Kreativität ist nicht das, was du produzierst, sondern das, was in dir entsteht, wenn du Raum dafür lässt.
Als Informatiker habe ich die Chance, Kreativität im Programmieren auszuleben, kreative Lösungen zu finden und Probleme auf unterschiedliche Arten zu lösen. Als Autor lebe ich meine Kreativität beim Reflektieren, Zusammenfassen und Schreiben aus. Als Hobbymusiker kann ich mich ungezwungen ans Klavier setzen und neuen Melodien freien Lauf lassen. Und als neugieriger Mensch kann ich mir tiefgreifende Fragen stellen und darüber philosophieren.
All das erlaubt mir, kreativ zu sein, obwohl ich weder ausgewiesener Künstler, Musiker noch Philosoph bin. Kreativität verleiht meinem Leben Farbe. Versuch auch du, mehr Farbe in dein Leben zu bringen, und lass Kreativität zu.